Was können SIE jetzt FÜR SICH tun?

Achtung im Blogpost kommen Trigger für SM Gefährdete vor!

Frage ?

Es ist Sonntagvormittag. Die Co-Therapeutin unserer Station, Schwester Nassima*, sitzt mit teilnahmsvoller, aber auch entschlossener Mine vor dem Häufchen Elend, in das ich mich in nur 24 h zuhause wieder verwandelt habe. Als Belastungsprobe wird das im Klinikjargon euphemistisch bezeichnet.
Oh ja danke. Es war belastend und ich habe die Probe vergeigt. Aber so was von.
Viele alten Muster haben sich zurückgemeldet. Ich sehe schon, wie sie sich ins Fäustchen gelacht haben und sich sagten: „Na warte Fräulein. Du meinst du hättest das verhaltenstherapeutische Wissen mit Löffeln gefressen? Ein Mokkalöffelchen war’s. Fahr mal schön wieder zurück in deine Klinik, ignorier die Brückenpfeiler und üb mal noch ein bisschen.“

Irgendwie bin ich dann wieder heil auf dem Zauberberg** angekommen. Heil? Natürlich Quatsch. Wann habe ich mich denn das letzte Mal: „heil“ gefühlt. Physisch unversehrt trifft es dann doch eher. Meine Psyche, die meinte eher: „hey, so viele schöne Brückenpfeiler und keinen mochtest du, jetzt heul hier nicht rum.“  Und weil meine inneren Stimmen so gar keine Ruhe geben wollten, habe ich mir kurzerhand schweren Herzens ein Beruhigungsmittel bei der Nachtschwester geholt, und meiner Psyche das Maul gestopft.

Wo war ich? Ach ja, Schwestern Nassima sitzt mir gegenüber und schafft es tatsächlich mit ihrer Frage durch Tränenschleier und Verzweiflung zu mir durchzudringen:

„Was können Sie denn jetzt für sich tun, damit es Ihnen besser geht.“

Das ist die Frage aller Fragen. So einfach und so vielschichtig. Die Essenz der Verhaltenstherapie. Was kann ICH für MICH tun. Nicht Familie, Freunde und Therapeuten. Sie alle können zwar für dich da sein. Sie können deine Krankheit mit dir aushalten, sie können dir Wege zeigen und Verfahren. Sie können dir Medikamente empfehlen/verordnen und dich – wenn es ganz hart kommt – vor dir selbst schützen. Aber am Ende des Tages bist du alleine, und du musst dir selbst helfen. Natürlich nicht am Anfang einer Krankheit oder in einer Akutphase. Aber irgendwann schon.

Wenn man wie ich viele Therapiejahre und etlichen Klinikaufenthalte hinter sich hat, wenn man Ratgeberliteratur nicht nur verschlungen, sondern auch verdaut hat, dann weiß man tief in sich drin, was man in einer schlimmen Situation für sich tun kann. Und klar, d.h. nicht, dass man dabei nur auf sich gestellt sein muss. Etwas für sich tun, kann auch heißen, dass man sich Hilfe holt. Vor allem, wenn es lebensgefährlich wird. Dann ist Hilfe von außen die Ultima ratio.

Aber wenn es nur ein bodenloser Absturz ohne Akut-Gefahr ist, ist es wichtig, wenn man auch Zugriff auf Dinge hat, die man ganz alleine für sich tun kann und die einem aus dem Tal der Tränen und der bodenlosen Verzweiflung rausholen. Da gibt es auch keine Allgemeinrezepte. Das sollte man für sich rausfinden. Und vielleicht schon mal notieren, wenn man nicht gerade auf dem Boden des Brunnes sitzt.

Bei mir war es heute Sport. Zuerst habe ich zu Schwester Nassima nur gesagt, dass ich joggen ginge, damit sie mich wieder alleine lässt und ich mich weiter meinem Elend hingeben kann. Aber dann hab ich doch die Laufschuhe angezogen und bin raus. Dass es mir wirklich helfen würde, davon war ich Anfangs nicht überzeugt.  Und es hat Kraft gekostet. Aber ich wollte es dann doch ausprobieren. Rausgehen hilft eigentlich immer ein Stück weit.

Am Anfang war es hart. Ich habe geweint, ich habe gehadert, ich war auch beim Joggen hoffnungslos verzweifelt. Dann habe ich versucht, die innere Gedankenflut durch Achtsamkeit auf Naturgeräusche abzulösen, und siehe da, es hat gewirkt. Ab da an lief es immer besser, und Gedanken und verzweifelte Gefühle verebbten.
Am Ende kamen 8 km zusammen. Mein Körper war erschöpft und mein Geist hatte Ruhe gegeben.

Ich hatte also die für mich in diesem Moment korrekte Antwort auf die Frage gefunden. Ich konnte etwas für mich tun. Heute. Heute konnte ich etwas für mich tun. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal nicht. Vielleicht krieche ich dann wieder ins Bett und heule mir die Augen aus dem Kopf. Aber heute: heute war ich draußen. Und es hat mir gut getan. Und ich habe eine Erinnerung geschaffen, dass es möglich ist, dass ich etwas für mich tue.

In diesem Sinne: fragt euch doch öfter mal, was ihr für euch tun könnt, auch wenn es nicht gerade ganz dick kommt.

Kommt gut durch die Woche

 

Euer Brunnenkind

 

*Klar, der Name ist natürlich geändert
**liebevolle Bezeichnung von Klinikinsassen für „ihre“ Klinik, vollkommen egal ob sie sich in den Schweizer Bergen oder an einem bayrischen See befindet. Dem Unkundigen sei das Buch: Der Zauberberg von Thomas Mann ans Herz gelegt.

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